Der blaue Engel

Mittwoch, 23.11.1955 22:45  ! Programmkino Rex
22:45 Der blaue Engel

Programmheft WS 1962/1963:

Es ist ein Paradox, daß der einzige deutsche Film des Amerikaners Joseph von Sternberg der Tradition des expressionistischen und Kammerspielfilms stärker verpflichtet ist als die zeitgenössischen Filme einheimischer Regisseure. An deutschen Vorbildern hatte Sternberg schon in Amerika gelernt: dort bereits zeichnete er Umwelt als Seelenlandschaft. Sein Professor Unrat ist, wie die Helden von „SyIvester”, „Der letzte Mann” und „Die Straße”, ein Gefangener seiner Triebe. Und wie jene Filme identifiziert sich dieser mit der Perspektive seiner Hauptgestalt. Die Tingeltangel-Tänzerin Lola erscheint als Überweib, als Verkörperung destruktiver Sexualität. Die Utensilien ihres Reizes, Federn und Strumpfbänder‚ werden zu Fetischen. Sternberg kondensiert um den Oberlehrer eine Atmosphäre unreifer Sexualität. Diffuses Zwielicht umlagert ihn, der seiner Sinne nicht mehr mächtig ist. Die Häuserwände neigen sich wie in den Filmen von 1924. Eine Schiffssirene tönt dunkel-geheimnisvoll in der Ferne. Die schneidende Denunziation der spätbürgerlichen Welt, die die Vorlage, Heinrich Manns Roman „Professor Unrat", geleistet hat, verriet Sternberg an das trübe Selbstmitleid des Geschlagenen. Als Erlösung aus unverschuldetem individuellem Leid empfindet es der Zuschauer, wenn am Ende der in sein Pennal heimgekehrte Lehrer am Pult zusammenbricht. (Grego-Patalas)
„Wofür die Beine, die Effekte, die Technik, das Riesentheater? Für eine Privattragödie, die in dieser Fassung und erst recht heute niemanden ernstlich angeht”. schrieb Siegfried Kracauer 1930 in der „Neuen Rundschau”, und Th. W.
Adorno: „Die Humanität, deren ‚Der Blaue Engel’ sich durch seine mildernden Retuschen befleißigt, die zum angeblich allzu Menschlichen schmunzelnde Güte, hat keinen anderen Zweck, als die Denunziation des Inhumanen zum Schweigen zu bringen, die Heinrich Manns Roman vollbrachte."
„... wenn auch alles wahr ist, was man gegen die Wahl die Sujets durch Erich Pommer, gegen die Verfälschung durch Zuckmayer und Cie., gegen Jannings komödiantisches Protzentum gesagt hat, so bewährte sich nebenbei doch das sensualistische Talent des Regisseurs Sternberg, das er zuvor und hernach in seinen amerikanischen Filmen eindeutiger bewiesen hat, seine Fähigkeit vor allem, aus Kostümen, Dekors, Fotografie und dem Einsatz seiner Darstellerinnen eine schillernde Atmosphäre unterdrückter Sexualität zu evozieren. — Davon kann bei dem neuen Film keine Rede mehr sein...”

(E. Patalas in „Filmkritik”)

„... heute wäre es ein heutiger Film: vielleicht würde man konstatieren, wie richtig beispielsweise der Ton verwandt wird, wie sparsam, wie bildintensivierend, und vielleicht würde man dann erklären, daß da endlich jemand begriffen habe, was Tonfilm eigentlich ist. Aber ach, dies war der frühesten Tonfilme einer. Und man muß schon lange nachdenken, um herauszufinden, worin wir seither eigentlich weitergekommen sind."

(Filmkritik)