Der Schrei

Mittwoch, 27.1.1965 21:00  ! Köhlersaal
21:00 Der Schrei

Programmheft WS 1964/1965:

Der Film stellt die Geschichte eines Mannes dar, den seine Frau verließ. Sein Leben ist (im wahrsten Sinne des Wortes) zerbrochen, und er geht fort, er flieht, was Rahmen und Bedingung seines Geschicks gewesen sind. Abenteuer und Begegnungen vermögen ihm die Erinnerung an eine Liebe, die für ihn gleichsam sein eigner Leib, sein eigenes Denken geworden ist, nicht zu entreißen. Als der Held zum Zeugen des Glücks wird, das jene Frau fern von ihm gefunden hat, gibt er sich einem Tod hin, dessen Ursache — Schwindelfall oder Selbstmord — absichtlich offenbleibt . . .

Die Tiefe des Themas und die Originalität der Durchführung könnten zu endlosen Kommentaren veranlassen. Weit mehr als jeder andere gehört dieser Film zu dem Typus von Filmwerken, die der Zuschauer mehrmals sehen muß, um seine Reichhaltigkeit zu entdecken und in den Sinn einzudringen. Er ist entschieden einer der bedeutendsten Filme der letzten Jahre; er ist gewissermaßen durch die Trennung des romanhaften und des poetischen Filmes gekennzeichnet.

In »IL GRIDO« sind wir in dem Augenblick ergriffen, da die Handlung in der Schwebe gehalten wird. So der Moment, als Aldo nach der Wettfahrt der Motorboote aller abseits stehen bleibt. Man sieht von ihm fast nur den Rücken, und aus dieser Reglosigkeit steigt wie Übelkeit das Gefühl der Verzweiflung auf. So auch, als er eine Straße ausbessert und den Blick auf die Insassen eines Autobusses wendet; es ist der Augenblick, da der Gedanke an Irma (seine Frau) das Denken des Mannes überflutet, da die Verbitterung alles zurückstößt, was man Leben nennt und was für Aldo kein Leben mehr ist. Dann bricht er auf und sucht weiter nach dem unmöglichen Vergessen, er vollendet den Kreis, der schließlich zu seiner Vernichtung führt.

Man kann also sagen, daß Antonioni in »IL GRIDO« nicht Handlung oder Personen, sondern zu allererst im wesentlichen einen Gedanken in Szene gesetzt hat... Weil es sich um das Drama eines Gedanken handelt, ist es weit mehr das Drama des Menschen schlechthin, als das eines bestimmten Menschen. Durch dieselbe Verinnerlichung vermochte Chaplin aus einer klar charakterisierten Figur ein universelles Symbol zu schaffen. In dieser Sicht ist Antonionis Werk dem Chaplins vergleichbar. »IL GRIDO« ist nicht die Geschichte von Aldo, es ist das Drama des der Einsamkeit geweihten Menschen.