Die Geschichte der Nana S.

Mittwoch, 14.7.1965 21:00  ! Köhlersaal
21:00 Die Geschichte der Nana S.

Nana S. ist Schallplattenverkäuferin in Paris mit einem Verdienst, der zum Leben nicht reicht. Um aus der finanziellen Misere heraus zu kommen prostituiert sie sich gelegentlich. Nachdem ihr die Wohnung gekündigt wurde, entschließt sie sich bewußt zur Prostitution in der Hoffnung ihre Situation zu verbessern. Ihre Hoffnungen werden nicht erfüllt und sie gerät immer weiter in den Sog der Abhängigkeit.
Silvia-Beate Rottschäfer (ESOC)


Programmheft SoSe 1965:

Zunächst Nanas recht einfache Geschichte: Nana (Karina) ist aus der Provinz nach Paris gekommen. Sie hat mit Paul (Labarthe) zusammengelebt; sie hat ein Kind von ihm. Aber diese Bindungen haben sie nicht glücklich gemacht. Sie hat das unbestimmte Gefühl, daß dieses Leben nicht das ist, das sie führen sollte. Sie verläßt Paul und ihr Kind. In einem Café, mit einem Gespräch zwischen Paul und ihr, das ihre endgültige Trennung herbeiführt, beginnt der Film und Nanas neues Leben. Während dieser Unterhaltung sieht man die beiden Gesprächspartner nur von hinten; erst als die Entscheidung gefallen ist, zeigen sie ihre Gesichter. Von dem Augenblick an verläßt die Kamera Nana kaum noch. Man sieht sie in einem Laden Schallplatten verkaufen. Mit dem Lohn kommt sie nicht aus, nicht einmal das Geld für die Miete bleibt ihr. Sie versucht ihren Unterhalt mit gelegentlicher Prostitution zu verdienen, dann wird sie professionelle Prostituierte. Der Beruf bringt ihr offensichtlich das ein, was sie zum Leben braucht. In einem Billardsaal trifft sie in Pièrre die Liebe ihres Lebens. In dem Augenblick, als sie seinetwegen ihren Beruf aufgeben will, stirbt sie unter den KugeIn von Zuhältern.

Schwerlich wollte Godard mit seinem Film sagen, Prostitution sei ein Beruf wie jeder andere, sondern vielmehr, daß es Prostitution sei, ein Leben zu leben, über dessen Ungemäßheit man sich im klaren ist, das man aber trotzdem aus gesellschaftlichen Rücksichten und Furcht vor Anstrengungen und Unannehmlichkeiten weiterführt. Derartige Ideen bei Godard intendieren sicher nicht eine Reform der gesellschaftlichen Struktur. Sie richten sich ausschließlich an das Individuum. Ideen dieser Art verdeutlichen, das Beziehungen zwischen »Vivre sa vie« und den »Essais« von Montaigne sich nicht in dem montaigneschen Satz erschöpfen, der dem Film als Motto vorangestellt ist. Man braucht nur das dritte Buch der »Essais« nachzulesen, um festzustellen, daß Nanas Lebensstil entschieden mehr Bezüge zu Montaignes Unterweisungen in der »Lebenskunst« aufweist als zu existentialistischen Maximen. Für Montaigne bedeutet es »eine höchste und gleichsam göttliche Vollendung, seines eigenen Wesens aufrichtig froh werden zu können«. In dieser Hinsicht ist Nana seine gelehrige Schülerin. Familiäre Bindungen können sie nicht davon abhalten, ihr Leben zu leben, und politische Realitäten scheinen ihr schon gar kein Kopfzerbrechen zu verursachen. Für sie sind Leute, die schießen, Banditen. Man macht es sich sicher zu einfach, wenn man aus der Tatsache, daß der Autor eine unengagierte Person zu seiner Heldin macht, Rückschlüsse auf seine politische Haltung zieht. Nanas falsche Bezeichnung politischer Kombattanten ist nur eine Variante des Themas, das der Film in ständig wechselnder Form angeht, daß schlecht gebrauchte Sprache und Verlogenheit identisch sind und daß Verlogenheit in die Welt kommt, weil man nicht bewußt genug lebt.