Der Brief

Mittwoch, 7.5.1969 21:00  ! Köhlersaal
21:00 Der Brief

Programmheft SoSe 1969:

Kristls Inhaltsangabe, verfaßt für das fördernde Kuratorium Junger deutscher Film, paßt auf das Drehbuch mehr als auf den Film: „T. findet einen Brief. Anstatt ihn einfach in den Postkasten zu werfen, entschließt er sich, pflichtbewußt wie er ist, ihn persönlich zu übergeben. Er wandert darum durch die ganze Welt, findet erstaunliche Formen der Existenz, läßt sich aber nicht aufhalten und sucht so lange weiter, bis er endlich die Adresse findet. Dort erfährt er, daß er sein eigenes Urteil mitgebracht hat. Er wird hingerichtet. Man fühlt Sympathie für einen Menschen, der eine ideale Sache vertritt. Aber natürlich ist niemand bereit, ihm auf diesem Weg zu folgen. Auf seiner Wanderung gerät er auch in eine Revolution. Alles, was ihm widerfährt, wirft ein Licht auf die Widersprüche unserer Welt von heute.“

T. „wandert durch die ganze Welt” - jedenfalls kommen im Film sehr viel und vielerlei Leute vor, Gesindel ist es mehr: Bettlergesindel, Soldatengesindel, bürgerliches Gesindel auf dem feinen Schiff, Revolutionsgesindel, Twengesindel etc. Alle sind ungeheuer böse. Sie sind so böse wie die Leute in Wirklichkeit, aber bei Kristl dürfen sie es richtig herauslassen. Es wird gegeneinandergegiftet, -gekeift und -geschrien — es ist ein Schimpfspiel, es ist geradezu ein Schimpffest.

Warum hat man Lust, „Fest“ zu sagen, wenn alle böse sind, jeder über jeden herfällt, und gehauen und geschossen wird? Warum empfindet man Kristls Film fast als befreiend? Zunächst: man sieht seine eigenen Aggressionsgelüste abgemalt. Daß sie hier absolut ursachenlos erscheinen, macht sie komisch, und eben dadurch findet man sich in ein freieres Verhältnis zu ihnen gebracht. Wichtiger aber: die Bosheit der Leute, von denen unser T. betroffen wird, ist ein Naturzustand.

Was einen hoffen macht, sind nicht nur diese Augenblicke zumindest scheinbarer Verständigung — es ist die transzendierende Fantasie, mit der hier geschimpft wird, nicht von diesen Leuten, sondern von Vlado Kristl. Er vermag die ungeahntesten Verwünschungen zu erlisten und zu erdichten, sein Verhältnis zur deutschen Sprache ist sehr zärtlich, sehr glücklich. Man möchte die hübschen Sachen, die er mit ihr macht, wirklich aufschreiben, die meisten stehen noch nicht im Drehbuch. Womöglich wäre das falsch. Wiewohl einen während des Films manchmal die Lust überkommt, erschöpft die Augen zuzumachen und nur zu horchen — vermutlich bleiben Kristls glückliche Erfindungen am Leben nur in diesem totalen Zusammenhang des Films. Und muß der Film bleiben wie er ist: körperlich eine Strapaze, geistig ein Vergnügen.

Helmut Färber in „Filmkritik“